Es ist kurz vor zehn Uhr, als mir eine kleinere, aber liebevoll lächelnde Frau die Tür öffnet. Es ist Karin Jahn (76). „Hallo, kommen Sie herein“, bittet sie mich freundlich in ihr Appartement. Seit sieben Monaten wohnt sie hier. Hier auf der zweiten Etage des DRK-Seniorenwohnzentrums „Niegripper Chaussee Siedlung“. Ihr Appartement hat sie am 1. November 2021 bezogen. Nach 73 Jahren im gleichen Haus wagte sie den Schritt eines Umzuges. Dank ihrer Enkel, Verwandten und Bekannten gelang es, die neuen vier Wände so einzurichten, dass sie sich heute in ihnen sehr wohl fühlt.
Vom Flur, in dem das Telefon steht, geht der Blick zunächst in das Schlafzimmer. Ein großes Fenster bringt viel Sonnenlicht herein. Karin Jahn erzählt: „Vor allem vormittags so bis 12.30 Uhr“ habe ich immer Sonne. Die wirft ihr Licht auch in das Wohnzimmer und in die Küche und lädt zugleich auf den Balkon ein.
Von ihm aus hat Karin Jahns einen guten Blick auf die Türme der Kirche Sankt Nicolai. „Die Uhr am Kirchturm sehe ich. Nur die Zeit kann ich nicht lesen. Da könnte der Pfarrer ruhig mal etwas machen“, scherzt die Seniorin. Für wahr, die Kirche und ihre beiden Türme sind gut zu erkennen und auch die Runde weiße Uhr ist zu sehen. Aber selbst ich kann die Zeit auf ihr nicht ablesen. Ich gebe ihr mit einem Zwinkern recht. „Die müsste größer, die Uhr.“
Als wir genügend Ausblicke vom Balkon auf die Stadt der Türme genommen haben, setzen wir uns. Die Sonne scheint wunderbar. Ein Glas Wasser und ein kleiner Rosenstrauß stehen auf dem Tischchen vor den Stühlen. Mich interessiert, warum Karin Jahns nach 73 Jahren im Haus ihrer Eltern den Entschluss gefasst hat, in das DRK-Seniorenwohnzentrum zu ziehen. „Wissen sie“ beginnt die stets lächelnde Dame: „Der Gedanke, das große Haus zu verlassen, reifte mit den Jahren und dann war da das allein sein. Als ich 2021 mit meiner Enkelin hier entlanggefahren bin, habe ich die Sanierung des Gebäudes gesehen und fortan beobachtet. Schließlich sagte ich mir: Besser als dort kannst Du nicht wohnen. Gönn Dir etwas – und das habe ich dann auch getan.“
Mittlerweile ist es halb Elf. Ein Auto fährt am Gebäude vorbei. „Schauen Sie denn öfter mal vom Balkon und beobachten, was sich vor dem Haus so abspielt?“, frage ich. „Ich? Dafür bin ich zu wacklig auf den Beinen“, lacht Karin Jahn. „Das macht aber nichts. Ich bekomme auch so viel mit“, winkt sie kurz darauf ab. Wie das zu verstehen ist, erzählt sie nach einem Schluck aus ihrem Glas. „Ich war ja eine der Ersten, die hier ins Haus gezogen sind. Da kenn ich die Bewohner alle auch über die Etagen hinweg. Außerdem treffen wir uns ja alle in der Tagespflege.“
Die Tagespflege gleich nebenan und mit dem Fahrstuhl aus jeder Etage bequem zu erreichen, interessiert mich. „Wie ist es da so?", frage ich. „Ich bin froh, dass es die hier gibt. Trotz meiner gesundheitlichen Einschränkungen kann ich so weiter die Sozialkontakte pflege, die sich hier gleich zu Beginn aufgebaut haben.“ Die entstanden durch gegenseitige Besuche und gemeinsame Kartenspielrunden, wie Karin Jahn erwähnt. Dass sie als gelernte Kinderpflegerin und ehemalige Krippenleiterin für die Zeit in der Tagespflege so einiges auf Lager hat, zeigt sich, als sie von einem Gedächtnisspiel berichtet, das sie eigens für die Gruppe der Tagesgäste entworfen hat. Es ist ein Lückentext, der sich, wie sich mir beim Lesen offenbart, mit meinem Besuch beschäftigt. „Aber pst. Ich wurde ja schon gefragt, warum ich heute nicht kann. Damit haben alle die Antwort“, lächelt sie.
Mit Spielen, über die neben dem Gedächtnis auch die Motorik, das Sehen und Hören trainiert werden, beschäftigt sie sich viel. Wir hatten einmal einen Beutel, in dem verschiedene Gegenstände zu ertasten waren, da weiß ich natürlich, wozu es dient. Ohnehin zeigt sich, dass sie viel Verständnis von den Abläufen in der Tagespflege besitzt. Was sich aus ihrer früheren Tätigkeit heraus erklärt. „Wissen sie täglich Abwechslung in den Alltag zu bringen, ist eine Herausforderung. Deshalb bin ich ja so froh, hier zu wohnen und in die Tagespflege zu können. Was wir da nicht für Witze miteinander machen. Spielen, feiern und lesen.“
Noch einmal schaue ich zur Kirchenuhr. Ich kann die Zeit wirklich nicht erkennen. „Versuchen sie es ruhig noch drei Mal. Die Uhr ist zu klein“, witzelt Karin Jahn. „Ich brauch wohl eine Brille“, scherze ich zurück. „Wenn Sie sich beeilen, schaffen Sie den Shuttle-Bus in die Stadt noch. „Zu spät“, bemerke ich, denn der Bus ist bei meiner Ankunft bereits abgefahren. Trotzdem frage ich nach. „Nutzen Sie den Bus denn häufiger?“ „Die Stadt ist wichtig. Nicht nur wegen der Arztbesuche. Wenn ich mal ein Eis essen will, dann möchte ich mich in die Stadt setzen. Die Leute sehen die vorübergehen. Für mich ist der Bus notwendig, wenn sie verstehen.“ Raus zu kommen, mal etwas anderes sehen, das ist eben auch im Alter ein Bedürfnis.
Was aber, wenn es die Gesundheit mal nicht zulässt? Dann gibt es zumindest die Pflegekräfte, die bei alltäglichem helfen und die medizinische Grundversorgung übernehmen. Das bestätigt nicht nur die Seniorin, sondern auch die Leiterin der DRK-Seniorenwohnparks, Darina Endert. „Das Schöne ist ja, wir kennen die Pflegerinnen, weil wir sie aus der Tagespflege kennen“, schließt Karin Jahns ab. Mehr braucht es auch nicht zu wissen. Nur diese verflixte Zeit auf der Kirchturmuhr will mir nicht aus dem Kopf gehen. Erst meine Kamera hilft, das Jucken im Kopf zu lösen. Wir wissen nun beide. Es ist 10:45 Uhr. Noch ist Schatten auf dem Hof des Seniorenwohnparks und damit Gelegenheit, etwas Kühle mit Blick auf die altehrwürdige „Knäcke“ zu genießen.