Regionalverband
Magdeburg-Jerichower Land e.V.


 

18. Februar 1923. Ja, für dieses Datum müsst ihr schon ein ganzes Stück in eurem Geschichtsbuch zurückblättern. Am 18. Februar 1923, da war nicht nur in den ehemalig preußischen Rheinprovinzen mächtig was los, weil die Regierungspräsidenten ausgewiesen wurden. Nein, auch in der Elbstraße 3 in Magdeburg Buckau herrschte große Aufregung. Meine Mutter lag nämlich in den Wehen und was soll ich euch sagen, irgendwann sagte der Doktor: Herzlichen Glückwunsch, es ist eine Tochter. Der 18. Februar 1923 ist also mein Geburtstag. Und wenn ihr auf den Kalender schaut, dann merkt ihr, das ist 100 Jahre her. Ja, ich feiere meinen 100. Geburtstag. Ich, die Ursula Müller, geborene Koppe.

Ein Glück meinen viele, und ich muss ihnen recht geben. 100 Jahre bin ich nun also schon auf der Welt. 100 Jahre, in denen ich meine Heimatstadt nur einmal für einige Wochen verließ, das war im Krieg, als Frauen und Kinder nach dem großen Angriff vom 16. Januar 1945 aus der Stadt evakuiert wurden. Unser Haus, mein Zuhause in der Elbstraße war glücklicherweise von den Bomben verschont geblieben. Mein zeitweises neues Zuhause in Halberstadt nicht. Alles, was ich aus Magdeburg mitnehmen konnte, alles, was ich besaß, wurde dort ausgebombt. Ich kam in die Stadt an der Elbe zurück und blieb. Bis heute. Es waren schöne Jahre. Was habe ich nicht mit meinen Brüdern, die Kinder- und Jugendjahre nicht für Stunden und Tage an der Elbe verbracht. Die Elbe war unser Exil von allem. Obwohl ich nie schwimmen, nie Fahrradfahren gelernt habe, hatte ich doch immer Spaß. Nicht nur an der Elbe beim Sonnen und Toben. Selbst dann noch, als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen und wir Kindern große Ohren bekamen, als sich immer mehr Leute über die neue Politik unterhielten. Auch ich wurde Teil davon. Als Mädchen im Bund Deutscher Mädel. So richtig hingepasst habe ich dort aber nie. Wohl auch deshalb, weil ich zwar viel und gerne sang, aber mir die Lieder nicht zusagen. Wir also meine Brüder und ich, wir sangen lieber in der Kirche oder in großen Hallen. Zu verdanken hatten wir das unserem Vater, der im Orchester des Theaters Magdeburg als Flötist angestellt war. Als Sopranistin mit Bass und Bariton brüderlich eingebunden, sangen wir zu Krippenspielen und in großen Hallen. Das Singen, das war mein Hobby. Meine Zuflucht.

Auch dann noch, als mich mein erster Mann verließ und ich schon mit 18 Jahren geschieden war. Zum Glück lernte ich 1953 meinen zweiten Mann Herbert kennen. Er nahm meinen Sohn Peter nicht nur wie seinen eigenen an, mit ihm begann ein gutes Leben. 1960 fand ich auch beruflich ein Zuhause. Beim DRK-Bezirkskomitee Magdeburg war ich von da an für die Personalstellen zuständig. Entschied, wer eingestellt wurde. Ich war die „Kadermietze“. Warum das heute alle amüsant finden, weiß ich so recht nicht. Da mein Mann Herbert in der Stadt angestellt war, konnten wir schnell aus unserer ersten Wohnung in der Stollbergerstraße 4a ausziehen, die für uns bis dahin das Familienheim war. Dort gab es nur ein Etagenklo, was mir immer missfiel. Die neue Wohnung in der Brunnenstraße war da viel besser. Hier bleib ich bis ins Jahr 2000, ehe ich erneut umzog. Vor Kurzem, genau genommen vor sieben Monaten bin ich aus meinem Zuhause in der Georg-Kaiser-Straße aus- und in den DRK-Seniorenwohnpark in der Wiener Straße eingezogen. Warum? Nun, mir gefiel das Haus, das ich schon 2014 bei seiner Eröffnung besuchte. Jedes Jahr rief ich den Leiter, Herrn Wagener an und erklärte ihm, er möge mir doch weiterhin ein Zimmer freihalten, denn in diesem, im darauffolgenden und in den weiteren acht Jahren wollte und musste ich noch nicht aus meiner lieb gewonnenen Wohnung.

Nun habe ich den Schritt mit 99 Jahren doch endlich getan. 30 Jahren wohnte ich zuvor allein ohne meinen Mann. Eine ganz schöne Umstellung kann ich euch sagen. Aber ich fühlte mich im Heim gleich wohl. Die Leute sind alle so herzlich hier. Sie sind wie eine kleine Familie. Meine Eigene ist weit weg in Berlin. Dort lebt mein einziger Sohn, den ich am 5. Oktober 1941 gebar, meine drei Enkel und meine zwei Tiktak-Enkel (Urenkel). Warum ich mich für das Heim in der Wiener Straße entschieden habe? Das ist doch ganz einfach. Durch meine ehemalige Tätigkeit beim DRK, die ich 1982 Zugunsten des Renteneintrittes aufgab, hatte ich immer gute Kontakte dorthin. Ich kenne viele Einrichtungen für Senioren hier in Magdeburg, aber nur in der Wiener Straße hat es mir von Anfang an gefallen. Hier wollte ich hin und hier freue ich mich nun jeden Tag auf mein Frühstück mit frischen Brötchen von Handwerksbäcker. Außerdem bin ich hier bei allem fein raus. Ich muss mich um nichts kümmern, wenn ich es nicht will. Zu gern sitze ich draußen auf einer der Bänke. Ihr müsst wissen, ich liebe die frische Luft. Selbst nachts habe ich das Fenster offen, was die Pflegerinnen immer gar nicht verstehen können. Ich brauche die frische Luft wie das Lachen und wegen meiner angeborenen Kurzsichtigkeit auch immer etwas in den Händen. Bis vor einer Weile habe ich noch gestrickt, gehäkelt und geknüpft. Jetzt finde ich hier täglich genügend Beschäftigung. Eine wird in den nächsten Tagen sein, die vielen Grußkarten zu lesen, die ich zu meinem 100. Geburtstag bekommen habe. Und falls mir der liebe Herrgott gewillt ist, dann lese ich im nächsten Jahr wieder so viele und vielleicht noch mehr. Immerhin gibt es noch genug, was hier zu erleben und zu leben ist.

 

     

 

 

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